NL 1998, 221 - Österreichisches Institut für Menschenrechte
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NL 1998, 221 - Österreichisches Institut für Menschenrechte
Osman gg. Vereinigtes Königreich NL 1998, S. 221 (NL 98/6/5) OSMAN gegen das Vereinigte Königreich Urteil der Großen Kammer vom 28. Oktober 1998 Verantwortung der Sicherheitsbehörden nach Amoklauf eines Lehrers: Recht auf Leben und Recht auf Zugang zu einem Gericht Art. 2 EMRK Art. 6 (1) EMRK Art. 8 EMRK Art. 13 EMRK Sachverhalt: Die beiden Bf. sind Ahmet Osman (ErstBf.) und seine Mutter (ZweitBf.). Im März 1988 verloren sie ihren Vater bzw. Gatten, nachdem dieser von einem ehemaligen Lehrer des ErstBf. getötet worden war. Bei diesem Vorfall war auch der ErstBf. schwer verletzt worden. 1987 begann eine intime Beziehung zwischen dem Lehrer und dem ErstBf., der zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt war. Die Schulbehörden erlangten Kenntnis von dieser Angelegenheit. Der Vater des ErstBf. beantragte die Versetzung seines Sohnes in eine andere Schule. In der Nachbarschaft der Osmans wurden Graffitis mit sexuellen Andeutungen auf Hauswände geschmiert, deren Urheberschaft der Lehrer des ErstBf. jedoch verneinte. Im April 1987 änderte der Lehrer seinen Namen von Paul Paget-Lewis in Paul Ahmet Yildirim Osman. Danach wurde er mehrmals von einem Schulpsychiater untersucht: Dieser riet dringend zu seiner Suspendierung. Der Lehrer wurde daraufhin von seiner Lehrverpflichtung für die Dauer des gegen ihn geführten Disziplinarverfahren freigestellt. Zwischen Mai und Oktober 1987 wurde die Familie Osman auf vielfältige Weise bedroht: Ein Ziegel wurde durch das Fenster ihres Hauses geworfen, die Reifen des Autos aufgeschlitzt und die Windschutzscheibe zertrümmert sowie der Hauseingang mit Hundekot verunreinigt. Jeder dieser Vorfälle wurde der Polizei gemeldet. Der ehemalige Lehrer des ErstBf., mittlerweile an einer anderen Schule tätig, wurde zu diesen Vorfällen erst einvernommen, nachdem er im Dezember 1987 mit seinem Auto absichtlich mit dem Fahrzeug eines Schulfreundes des ErstBf., auf den er eifersüchtig war, kollidiert hatte. Von den Schulbehörden erneut zu den Vorfällen befragt, gab der Lehrer an, er fühle sich "selbstzerstörerisch" und kündigte einen Massenmord an. Davon wurden die Sicherheitsbehörden informiert. Als diese den Lehrer zwei Tage später in seiner Wohnung verhaften wollten, war er schon untergetaucht. Im März 1988 erschoss er mit einer gestohlenen Waffe den Vater des ErstBf. und verwundete letzteren lebensgefährlich. Gleich darauf fuhr er zum Haus des stellvertretenden Schuldirektors, verletzte ihn schwer und erschoss dessen Sohn. Der Lehrer wurde daraufhin wegen zweifachen Totschlags (manslaughter) verurteilt und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Die Bf. behaupteten große Versäumnisse der Sicherheitsbehörden und brachten Schadenersatzklagen ein. Diese wurden jedoch zurückgewiesen, da Sicherheitsbehörden wegen Untätigkeit bei der Verbrechensaufklärung bzw. -verhinderung nicht geklagt werden können. Rechtsausführungen: Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf körperliche Unversehrtheit), von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf Zugang zu einem Gericht) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz). · Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK: Art. 2 EMRK beinhaltet auch die positive Verpflichtung von Behörden, präventive Maßnahmen zum Schutze solcher Personen zu setzen, deren Leben durch kriminelle Handlungen anderer gefährdet werden könnte. Das Ausmaß dieser Verpflichtung darf jedoch den Behörden in diesem Zusammenhang keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegen. Die Sicherheitsbehörden haben bei Erfüllung ihrer Aufgaben die Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu beachten: Die Beachtung der Unschuldsvermutung kann ihnen ebensowenig vorgeworfen werden, wie unterlassene Amtshandlungen (Festnahme, file:///D|/web/Institut%20für%20Menschrechte/Alte%20Seite/docs/98_6/98_6_05.htm[03.03.2010 17:31:34] Osman gg. Vereinigtes Königreich Hausdurchsuchung), sofern für letztere kein ausreichender Verdacht vorgelegen ist. Die Bf. konnten nicht nachweisen, dass die Sicherheitsbehörden zu irgendeinem Zeitpunkt wussten oder wissen hätten müssen, dass das Leben von Familienmitgliedern unmittelbar bedroht sei. Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (17:3 Stimmen, Sondervoten der Richter De Meyer, Lopes Rocha und Casadevall). Aus den selben Gründen wird auch keine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt. · Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK: Die Schadensersatzklagen der Bf. wurden zurückgewiesen, folglich eine inhaltliche Behandlung nicht vorgenommen. Dies stellt im Ergebnis eine ungerechtfertigte Beschneidung des Rechts der Bf. auf eine inhaltliche Behandlung ihrer Klagen dar. Durch die Zurückweisung wurden die Bf. demnach in ihrem Recht auf Zugang zu einem Gericht in unverhältnismäßiger Weise beschränkt. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig). Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK (19:1 Stimmen). · Art. 50 EMRK: GBP 10.000,-- für immateriellen Schaden; GBP 30.000,-abzüglich Verfahrenskostenhilfe des Europarates in Höhe FRF 35.264,-- für Kosten und Auslagen. Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Irland/GB, Urteil v. 18.1.1978, A/25 (= EuGRZ 1979, 149); McCann ua./GB, Urteil v. 27.9.1995, A/324 (= NL 95/6/4 = ÖJZ 1996, 233); L.C.B./GB, Urteil v. 9.6.1998 (= NL 98/3/5); Tinelly & Sons Ltd. ua. and McElduff ua./GB, Urteil v. 10.7.1998 (= NL 98/4/2). Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 1.7.1997 eine Verletzung von Art. 6 EMRK (12:5 Stimmen), nicht jedoch von Art. 2 EMRK und Art. 8 EMRK festgestellt (10:7 Stimmen). Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK (12:5 Stimmen). P.R. Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format). file:///D|/web/Institut%20für%20Menschrechte/Alte%20Seite/docs/98_6/98_6_05.htm[03.03.2010 17:31:34]
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